Widerstand im Nationalsozialismus
Fallbeispiel: Die Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsgruppe
Die "Rote Kapelle"
Von: Dariush Nodehi
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Inhaltsverzeichnis:I. Einleitung
II. Motivation und Aktion der Harnack / Schulze-Boysen
WiderstandsorganisationIII. Die „Rote Kapelle“ im Kontext von Widerstand,
Protest und der Resistenz
IV. Die Bedeutung der „Roten Kapelle“ für die
ZeitgenossenV. Die spätere Rezeption in der ehemaligen DDR und
der Bundesrepublik vor und nach der
Wiedervereinigung
VI. Die Rote Kapelle im Gesamtkontext des
Widerstands gegen die NS-Diktatur
VII. Literaturverzeichnis
Einleitung
Der Widerstand gegen Hitler war keine einheitliche Bewegung und verfügt auch nicht über eine einheitliche Begründung für sein Handeln. Er hat sich in Etappen entwickelt, die wesentlich von den Maßnahmen und der Veränderung der NS-Herrschaft bestimmt waren.
Drei Fragestellungen sind trotz methodischer Vielfalt für das Thema zentral:
1. Durch welche Formen, Motive, Aktivitäten war der
Widerstand gekennzeichnet?
Wie lassen sie sich innerhalb wissenschaftlicher
Kategorien systematisieren?2. Welche Folgen hatte der Widerstand für die
Zeitgenossen und die Nachgeborenen?
Welchen Beitrag hat die historische Forschung in der
Nachkriegszeit zur Klärung geleistet?3. Wie sind die Widerstandsaktivitäten vor dem
Hintergrund seinerMöglichkeiten zu bewerten?Diese Fragen sollen am Beispiel der Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsorganisation näher analysiert werden. Im ersten Kapitel werden deren Motive und Aktionen beschrieben, im zweiten Teil in den Problemkreis „Widerstand, Protest, Resistenz“ eingeordnet sowie im dritten Teil die Folgen für die Zeitgenossen und eine Analyse der Nachkriegsrezeption diskutiert. Abschließend werden bezugnehmend auf den dritten Fragenkreis die Aktivitäten in den größeren Zusammenhang der Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes im Nationalsozialismus eingeordnet sowie ein abschließendes Fazit gezogen.
I. Motivation und Aktionen der Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsorganisation
Die Ursprünge der Kreise um Harnack und Schulze-Boysen liegen bereits in der Endphase der Weimarer Republik. Durch die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Weltwirtschaftskrise, der Unfähigkeit zur parlamentarischen Demokratie, die innenpolitische Provokation durch die NS-Bewegung und die Herausforderungen westlicher Werte durch das sowjetische Experiment bildeten sich neben den traditionellen politischen Verbänden und Institutionen neue Formen politischer Gemeinschaftsbildung heraus. [1]Dazu zählten die Kreise um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, die sich seit 1938 zu einer relativ konsistenten Widerstandsgruppe zusammenschlossen, die dann von der Gestapo „Rote Kapelle“ genannt wurde. [2]Der Kreis um Arvid [3] : Der sich bereits 1933 formierende Kreis war Ausdruck einer frühen und entscheidenden Gegnerschaft zum NS-Regime. [4] Fragen der Wirtschaftsordnung, der Verantwortung des Staates und der außenpolitischen Orientierung wurden diskutiert. Harnacks Gesellschaftsbild eines auf sozialen Ausgleich zielenden, planwirtschaftlich organisierten deutschen Nationalstaates, mit einer zwischen Ost und West ausbalancierten Außenpolitik prägte die Ordnungsvorstellungen der Widerstandsgruppe maßgeblich. [5] Aufgrund seiner philosophischen und politischen Fundierung wurden die Aktivitäten des Kreises als „Widerstand vom Geiste her“ charakterisiert. [6] In der praktischen Schulungs- und Bildungsarbeit Harnacks wurden Elemente der linken Tradition marxistischer Zirkel adaptiert. Mehr intellektueller denn politischer Anspruch der Kurse war es, die Beteiligten analytisch zur Kritik am NS-Regime zu befähigen und Führungspotentiale für die Zeit nach dem Sturz Hitlers zu entwickeln. [7] Der Kreis um Harald Schulze-Boysen [8] : Ziel der politischen Widerstandsarbeit Schulze-Boysens war es, über den „Marsch durch die Institutionen“ das NS-System von innen auszuhebeln. Wie Harnack muss auch er als erklärter Regimegegner angesehen werden. Der seit Mitte der 30er Jahre im Umfeld von Harro Schulze-Boysen entstehende Kreis [9] war als ein offenes Diskussionsforum angelegt, das im Austausch mit anderen Widerstandsgruppen stand. [10] SeineVorstellungen verraten die Prägung durch die nationalrevolutionäre Bewegung Anfang der 30er Jahre. Sie sind aber in ihrer politischen Diktion sehr unabhängig und originell und auch nach 1933 offen für neue Impulse. In seiner Zielsetzung und seinen Inhalten war es weniger festgelegt als der Kreis um Harnack.Ab 1938 rückten die Kreise um Harnack und Schulze-Boysen zusammen. Damit einher ging zugleich deren Erweiterung und Öffnung. Nach 1939 stießen ein Kreis von Jungkommunisten um Hans Coppi, eine Gruppe um den Psychoanalytiker John Ritmeister oder den Freundeskreis des Schauspielers Wilhelm-Schürmann-Hoerster hinzu. [11] Sie brachten eigene Widerstandserfahrungen ein und agierten bei vielen Einzelaktivitäten unabhängig. [12] Hier zeigt sich eine für den Widerstand insgesamt typische Phasenverschiebung: Die Opposition wurde nicht mehr alleine aus der politischen Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik, ihren Traditionen, Verbänden und Parteien getragen. Eine junge Generation stieß hinzu, die in der NS-Zeit sozialisiert worden war. [13] Zudem wurden die Kontakte zum kommunistischen Widerstand intensiviert. [14] Die so entstandene Organisation wurde zu einer der größten Widerstandsgruppen der frühen 40er Jahre. Die Aktivitäten waren in der Zeit vor 1939 stark von der Erwartung eines Massenwiderstandes geprägt, auf den man sich vorbereiten und in den man dann politisch gestaltend eingreifen wollte. Sein Ausbleiben, der Kriegsbeginn und die Absichten Hitlers, von der taktischen Verständigung mit der Sowjetunion zur militärischen Konfrontation zu wechseln, veranlasste die Gruppe zu neuen Prioritäten ihres Widerstandes, um weitere Verbrechen zu vereiteln. [15] Illegale Flugblätter wurden entworfen, gedruckt und verteilt, sogar einige Nummern illegaler Zeitungen „Die innere Front“ konnten hergestellt und verteilt werden. Sie sind Ausdruck eines Oppositionswillens der verstärkt nach außen gerichtet ist und auf Aufklärung der Bevölkerung setzte. [16]Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden nicht nur diese Aktivitäten verstärkt. Die Gruppe begann auch mit der systematischen Sammlung und Beschaffung von militärisch wichtigen Nachrichten für die Sowjetunion, um auf diese Weise aktiv am Sturz des NS-Regimes mitzuwirken. [17] Die nachrichtendienstlichen Kontakte müssen im Zusammenhang politischer Grundsatzüberlegungen der Gruppe interpretiert werden, die durch Hitler preisgegebene Souveränität Deutschlands zurückzugewinnen. [18] Einhellige Überzeugung war es, dass allein die militärische Niederlage Deutschland noch die Befreiung vom Nationalsozialismus bringen könne und durch eine Verkürzung des Krieges nicht nur Menschen gerettet würden, sondern nur so Deutschland als eigenständiger Staat in der Mitte Europas erhalten werden könne. [19] Die verstärkte Hinwendung zu anderen Widerstandsgruppen im Herbst 1941, die Versendung von Flugschriften, die Dokumentation von NS-Verbrechen, die Hilfe für ausländische Zwangsarbeiter sind vor dem Hintergrund der geringen Resonanz der sowjetischen Seite und der an mangelnder Professionalität gescheiterten Versuche zum Aufbau einer Nachrichtenverbindung zu sehen.Im Herbst 1942 deckten die Gestapo und die Abwehr die Widerstandsorganisation um Harnack und Schulze-Boysen auf. Weit über 100 ihrer Mitglieder wurden in den folgenden Monaten vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.II. Die „Rote Kapelle“ im Kontext von Widerstand, Protest und der „Resistenz“
Die Definition und Interpretation der Begriffe ist in der Widerstandsforschung ähnlich vielfältig wie deren Erscheinungsformen. [20] Ein verbindendes Merkmal verschiedener Definitionen des Widerstandes im engeren Sinne ist das „aktive, politisch bewusste Handeln“ Einzelner oder Gruppen, die sich fundamental gegen das Regime richteten. [21] Im Gegensatz dazu beschränken sich „oppositionelle Grundhaltung“ und „Protest“ auf Einstellungen.Der Begriff „Resistenz“ war als struktureller, neutraler Begriff angelegt, der die sozialen und politischen Einflüsse, Auswirkungen und Konsequenzen oppositioneller Aktivitäten in den Vordergrund stellte. Er bezieht bewusst eine Perspektive von unten ein und betont die Milieubedingten Fähigkeiten zum Widerstand. [23
Ordnet man die Aktivitäten der Roten Kapelle in diese Begriffskategorien ein, so muss man ihre Aktivitäten als„Widerstand“ in engerem Sinne bezeichnen. Unter Rückgriff
auf die Kategorien des aktiven und passiven Widerstandes,
wie sieStöber exemplarisch ausführt [24] , zählen die
Aktivitäten zum passiven Widerstand. [25] Erklärtes Ziel
der Kreise um Harnack und Schulze-Boysen war seit 1933 der
Umsturz des Regimes. Zunächst konzentrierte sich der nach
innen gerichtete Widerstand in Erwartung einer
Massenbewegung auf die intellektuelle Stärkung für die Zeit
nach dem Umsturz. Die Einsicht über die Fehleinschätzung
dieser Möglichkeiten führte nach 1939 zu nach außen
gerichtetem Widerstand: auf den „publizistischen Widerstand“
über Flugblätter, etc., die auf Aufklärung der Bevölkerung
setzte; nach 1941 auf Informationsweitergabe und
nachrichtliche Aktivitäten, um das Militär zu schwächen.
III. Die Bedeutung der „Roten Kapelle“ für die Zeitgenossen
Die Rote Kapelle weist typische organisationssoziologische
Merkmale einer Kleinorganisation, die als besonders aktive
und organisatorisch stabile Bestandteile der
Widerstandsbewegung gelten. Sie rekrutierte ihre Anhänger
aus den Mittelschichten, nur zu einem ganz geringen Anteil aus
der Arbeiterschicht. Insgesamt handelte es sich um einen eher
informellen Zusammenschluss, Widerstandsverbund von 130
Frauen und Männern. [26] Der hohe Anteil von Frauen
und Parteilosen deutet darauf hin, dass sich die Gruppe aus
den sozialen Alltagszusammenhängen heraus
zusammenschloss. [27] Sie gründete sich auf jahrelang
gewachsenen freundschaftlichen, sozialen und
verwandtschaftlichen Beziehungen. Mit der Zusammenführung
und Erweiterung der Gruppe entstand 1939 eine der größten
Widerstandsgruppen, die Spannungen höchst
unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Traditionen
aushielt. [28] Während die kommunistischen
Widerstandsgruppen in Hamburg, Berlin und dem Ruhrgebiet
auf ein ganz bestimmtes politisches Spektrum zielten, blieb die
Rote Kapelle in der Tradition ihrer Entstehungsjahre
politisch-inhaltlich offen. Es gab lose Verbindungen zu
Kommunisten, Katholiken zum Kreisauer Kreis und weiteren
Widerstandsaktivisten. [29] Nach 1939 versuchte die „Rote
Kapelle“ ihren Wirkungsraum durch die dargestellte Öffnung
und Kontaktaufnahme mit der Sowjetunion auszubauen.
Insgesamt blieb die Organisation eine Minderheitsbewegung,
ohne breite Unterstützung in der Gesellschaft und ohne die
erhoffte Unterstützung der Sowjetunion. [30]Als die Geheime Staatspolizei die Aktivitäten der Gruppe
entdeckte, bezeichnete sie die Widerstandsorganisation als
„Rote Kapelle“ und rückte sie damit bewußt in das Zwielicht
der Spionage. Sie schuf nach der Entdeckung und Aufklärung
der nachrichtendienstlichen Aktivitäten das Bild eines
orthodox-kommunistischen Agentenringes. In den Ermittlungen
der Gestapo wurden die Aktionen verquickt mit denen der
Organisation des sowjetischen Nachrichtendienstes, mit denen
die Harnack/Schulze-Boysen-Organisation lediglich technisch
zusammenarbeitete. Bis weit in die Nachkriegszeit trug das
von der Gestapo entworfene Zerrbild zur Legendenbildung
und Fehleinschätzung der Widerstandsgruppe bei. [31]
IV. Die spätere Rezeption in der ehemaligen DDR
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