Widerstand im Nationalsozialismus

Fallbeispiel: Die Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsgruppe
Die "Rote Kapelle"

    Von: Dariush Nodehi
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Inhaltsverzeichnis:

I.      Einleitung

II.     Motivation und Aktion der Harnack / Schulze-Boysen
        Widerstandsorganisation

III.     Die „Rote Kapelle“ im Kontext von Widerstand,
         Protest und der Resistenz
 

IV.    Die Bedeutung der „Roten Kapelle“ für die
        Zeitgenossen

V.     Die spätere Rezeption in der ehemaligen DDR und
        der Bundesrepublik vor und nach der
        Wiedervereinigung
 

VI.     Die Rote Kapelle im Gesamtkontext des
         Widerstands gegen die NS-Diktatur
 

VII.   Literaturverzeichnis



 
Einleitung
 
Der Widerstand gegen Hitler war keine einheitliche Bewegung und verfügt auch nicht über eine einheitliche Begründung für sein Handeln. Er hat sich in Etappen entwickelt, die wesentlich von den Maßnahmen und der Veränderung der NS-Herrschaft bestimmt waren.


Drei Fragestellungen sind trotz methodischer Vielfalt für das Thema zentral:
1. Durch welche Formen, Motive, Aktivitäten war der
    Widerstand gekennzeichnet?
Wie lassen sie sich innerhalb wissenschaftlicher
Kategorien systematisieren?

2. Welche Folgen hatte der Widerstand für die
    Zeitgenossen und die Nachgeborenen?
    Welchen Beitrag hat die historische Forschung in der
    Nachkriegszeit zur Klärung geleistet?

3. Wie sind die Widerstandsaktivitäten vor dem
    Hintergrund seinerMöglichkeiten zu bewerten?

Diese Fragen sollen am Beispiel der Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsorganisation näher analysiert werden. Im ersten Kapitel werden deren Motive und Aktionen beschrieben, im zweiten Teil in den Problemkreis „Widerstand, Protest, Resistenz“ eingeordnet sowie im dritten Teil die Folgen für die Zeitgenossen und eine Analyse der Nachkriegsrezeption diskutiert. Abschließend werden bezugnehmend auf den dritten Fragenkreis die Aktivitäten in den größeren Zusammenhang der Möglichkeiten und Grenzen des Widerstandes im Nationalsozialismus eingeordnet sowie ein abschließendes Fazit gezogen.

I. Motivation und Aktionen der Harnack/Schulze-Boysen-Widerstandsorganisation
 

Die Ursprünge der Kreise um Harnack und Schulze-Boysen liegen bereits in der Endphase der Weimarer Republik. Durch die gesellschaftspolitische Auseinandersetzung mit der Weltwirtschaftskrise, der Unfähigkeit zur parlamentarischen Demokratie, die innenpolitische Provokation durch die NS-Bewegung und die Herausforderungen westlicher Werte durch das sowjetische Experiment bildeten sich neben den traditionellen politischen Verbänden und Institutionen neue Formen politischer Gemeinschaftsbildung heraus. [1]
Dazu zählten die Kreise um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen, die sich seit 1938 zu einer relativ konsistenten Widerstandsgruppe zusammenschlossen, die dann von der Gestapo „Rote Kapelle“ genannt wurde. [2]
Der Kreis um Arvid [3] : Der sich bereits 1933 formierende Kreis war Ausdruck einer frühen und entscheidenden Gegnerschaft zum NS-Regime. [4] Fragen der Wirtschaftsordnung, der Verantwortung des Staates und der außenpolitischen Orientierung wurden diskutiert. Harnacks Gesellschaftsbild eines auf sozialen Ausgleich zielenden, planwirtschaftlich organisierten deutschen Nationalstaates, mit einer zwischen Ost und West ausbalancierten Außenpolitik prägte die Ordnungsvorstellungen der Widerstandsgruppe maßgeblich. [5] Aufgrund seiner philosophischen und politischen Fundierung wurden die Aktivitäten des Kreises als „Widerstand vom Geiste her“ charakterisiert. [6] In der praktischen Schulungs- und Bildungsarbeit Harnacks wurden Elemente der linken Tradition marxistischer Zirkel adaptiert. Mehr intellektueller denn politischer Anspruch der Kurse war es, die Beteiligten analytisch zur Kritik am NS-Regime zu befähigen und Führungspotentiale für die Zeit nach dem Sturz Hitlers zu entwickeln. [7] Der Kreis um Harald Schulze-Boysen [8] : Ziel der politischen Widerstandsarbeit Schulze-Boysens war es, über den „Marsch durch die Institutionen“ das NS-System von innen auszuhebeln. Wie Harnack muss auch er als erklärter Regimegegner angesehen werden. Der seit Mitte der 30er Jahre im Umfeld von Harro Schulze-Boysen entstehende Kreis [9] war als ein offenes Diskussionsforum angelegt, das im Austausch mit anderen Widerstandsgruppen stand. [10] Seine
Vorstellungen verraten die Prägung durch die nationalrevolutionäre Bewegung Anfang der 30er Jahre. Sie sind aber in ihrer politischen Diktion sehr unabhängig und originell und auch nach 1933 offen für neue Impulse. In seiner Zielsetzung und seinen Inhalten war es weniger festgelegt als der Kreis um Harnack.
Ab 1938 rückten die Kreise um Harnack und Schulze-Boysen zusammen. Damit einher ging zugleich deren Erweiterung und Öffnung. Nach 1939 stießen ein Kreis von Jungkommunisten um Hans Coppi, eine Gruppe um den Psychoanalytiker John Ritmeister oder den Freundeskreis des Schauspielers Wilhelm-Schürmann-Hoerster hinzu. [11] Sie brachten eigene Widerstandserfahrungen ein und agierten bei vielen Einzelaktivitäten unabhängig. [12] Hier zeigt sich eine für den Widerstand insgesamt typische Phasenverschiebung: Die Opposition wurde nicht mehr alleine aus der politischen Auseinandersetzung mit der Weimarer Republik, ihren Traditionen, Verbänden und Parteien getragen. Eine junge Generation stieß hinzu, die in der NS-Zeit sozialisiert worden war. [13] Zudem wurden die Kontakte zum kommunistischen Widerstand intensiviert. [14] Die so entstandene Organisation wurde zu einer der größten Widerstandsgruppen der frühen 40er Jahre. Die Aktivitäten waren in der Zeit vor 1939 stark von der Erwartung eines Massenwiderstandes geprägt, auf den man sich vorbereiten und in den man dann politisch gestaltend eingreifen wollte. Sein Ausbleiben, der Kriegsbeginn und die Absichten Hitlers, von der taktischen Verständigung mit der Sowjetunion zur militärischen Konfrontation zu wechseln, veranlasste die Gruppe zu neuen Prioritäten ihres Widerstandes, um weitere Verbrechen zu vereiteln. [15] Illegale Flugblätter wurden entworfen, gedruckt und verteilt, sogar einige Nummern illegaler Zeitungen „Die innere Front“ konnten hergestellt und verteilt werden. Sie sind Ausdruck eines Oppositionswillens der verstärkt nach außen gerichtet ist und auf Aufklärung der Bevölkerung setzte. [16]
Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurden nicht nur diese Aktivitäten verstärkt. Die Gruppe begann auch mit der systematischen Sammlung und Beschaffung von militärisch wichtigen Nachrichten für die Sowjetunion, um auf diese Weise aktiv am Sturz des NS-Regimes mitzuwirken. [17] Die nachrichtendienstlichen Kontakte müssen im Zusammenhang politischer Grundsatzüberlegungen der Gruppe interpretiert werden, die durch Hitler preisgegebene Souveränität Deutschlands zurückzugewinnen. [18] Einhellige Überzeugung war es, dass allein die militärische Niederlage Deutschland noch die Befreiung vom Nationalsozialismus bringen könne und durch eine Verkürzung des Krieges nicht nur Menschen gerettet würden, sondern nur so Deutschland als eigenständiger Staat in der Mitte Europas erhalten werden könne. [19] Die verstärkte Hinwendung zu anderen Widerstandsgruppen im Herbst 1941, die Versendung von Flugschriften, die Dokumentation von NS-Verbrechen, die Hilfe für ausländische Zwangsarbeiter sind vor dem Hintergrund der geringen Resonanz der sowjetischen Seite und der an mangelnder Professionalität gescheiterten Versuche zum Aufbau einer Nachrichtenverbindung zu sehen.
Im Herbst 1942 deckten die Gestapo und die Abwehr die Widerstandsorganisation um Harnack und Schulze-Boysen auf. Weit über 100 ihrer Mitglieder wurden in den folgenden Monaten vom Reichskriegsgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.

II. Die „Rote Kapelle“ im Kontext von Widerstand, Protest und der „Resistenz“

 
Die Definition und Interpretation der Begriffe ist in der Widerstandsforschung ähnlich vielfältig wie deren Erscheinungsformen. [20] Ein verbindendes Merkmal verschiedener Definitionen des Widerstandes im engeren Sinne ist das „aktive, politisch bewusste Handeln“ Einzelner oder Gruppen, die sich fundamental gegen das Regime richteten. [21] Im Gegensatz dazu beschränken sich „oppositionelle Grundhaltung“ und „Protest“ auf Einstellungen.Der Begriff „Resistenz“ war als struktureller, neutraler Begriff angelegt, der die sozialen und politischen Einflüsse, Auswirkungen und Konsequenzen oppositioneller Aktivitäten in den Vordergrund stellte. Er bezieht bewusst eine Perspektive von unten ein und betont die Milieubedingten Fähigkeiten zum Widerstand. [23
Ordnet man die Aktivitäten der Roten Kapelle in diese Begriffskategorien ein, so muss man ihre Aktivitäten als
„Widerstand“ in engerem Sinne bezeichnen. Unter Rückgriff
auf die Kategorien des aktiven und passiven Widerstandes,
wie sieStöber exemplarisch ausführt [24] , zählen die
Aktivitäten zum passiven Widerstand. [25] Erklärtes Ziel
der Kreise um Harnack und Schulze-Boysen war seit 1933 der
Umsturz des Regimes. Zunächst konzentrierte sich der nach
innen gerichtete Widerstand in Erwartung einer
Massenbewegung auf die intellektuelle Stärkung für die Zeit
nach dem Umsturz. Die Einsicht über die Fehleinschätzung
dieser Möglichkeiten führte nach 1939 zu nach außen
gerichtetem Widerstand: auf den „publizistischen Widerstand“
über Flugblätter, etc., die auf Aufklärung der Bevölkerung
setzte; nach 1941 auf Informationsweitergabe und
nachrichtliche Aktivitäten, um das Militär zu schwächen.

III. Die Bedeutung der „Roten Kapelle“ für die Zeitgenossen

 
Die Rote Kapelle weist typische organisationssoziologische
Merkmale einer Kleinorganisation, die als besonders aktive
und organisatorisch stabile Bestandteile der
Widerstandsbewegung gelten. Sie rekrutierte ihre Anhänger
aus den Mittelschichten, nur zu einem ganz geringen Anteil aus
der Arbeiterschicht. Insgesamt handelte es sich um einen eher
informellen Zusammenschluss, Widerstandsverbund von 130
Frauen und Männern. [26] Der hohe Anteil von Frauen
und Parteilosen deutet darauf hin, dass sich die Gruppe aus
den sozialen Alltagszusammenhängen heraus
zusammenschloss. [27] Sie gründete sich auf jahrelang
gewachsenen freundschaftlichen, sozialen und
verwandtschaftlichen Beziehungen. Mit der Zusammenführung
und Erweiterung der Gruppe entstand 1939 eine der größten
Widerstandsgruppen, die Spannungen höchst
unterschiedlicher politischer und weltanschaulicher Traditionen
aushielt. [28] Während die kommunistischen
Widerstandsgruppen in Hamburg, Berlin und dem Ruhrgebiet
auf ein ganz bestimmtes politisches Spektrum zielten, blieb die
Rote Kapelle in der Tradition ihrer Entstehungsjahre
politisch-inhaltlich offen. Es gab lose Verbindungen zu
Kommunisten, Katholiken zum Kreisauer Kreis und weiteren
Widerstandsaktivisten. [29] Nach 1939 versuchte die „Rote
Kapelle“ ihren Wirkungsraum durch die dargestellte Öffnung
und Kontaktaufnahme mit der Sowjetunion auszubauen.
Insgesamt blieb die Organisation eine Minderheitsbewegung,
ohne breite Unterstützung in der Gesellschaft und ohne die
erhoffte Unterstützung der Sowjetunion. [30]
Als die Geheime Staatspolizei die Aktivitäten der Gruppe
entdeckte, bezeichnete sie die Widerstandsorganisation als
„Rote Kapelle“ und rückte sie damit bewußt in das Zwielicht
der Spionage. Sie schuf nach der Entdeckung und Aufklärung
der nachrichtendienstlichen Aktivitäten das Bild eines
orthodox-kommunistischen Agentenringes. In den Ermittlungen
der Gestapo wurden die Aktionen verquickt mit denen der
Organisation des sowjetischen Nachrichtendienstes, mit denen
die Harnack/Schulze-Boysen-Organisation lediglich technisch
zusammenarbeitete. Bis weit in die Nachkriegszeit trug das
von der Gestapo entworfene Zerrbild zur Legendenbildung
und Fehleinschätzung der Widerstandsgruppe bei. [31]
IV. Die spätere Rezeption in der ehemaligen DDR
     und der Bundesrepublik vor und nach der
     Wiedervereinigung
Wie kein anderes zeitgeschichtliches Phänomen war die
Auseinandersetzung mit dem deutschen Widerstand gegen
Hitler in beiden deutschen Teilstaaten von Anfang an von
einer politisch-ideologisch motivierten Instrumentalisierung
und einer damit einhergehenden Ausgrenzung einzelner
Widerstandsgruppen begleitet. In der DDR stand der
Widerstand der deutschen Arbeiterbewegung, vor allem ihres
kommunistischen Flügels über die Jahrzehnte weitestgehend
unverändert im Vordergrund. Der Widerstand anderer
Gruppen wurde erst sehr spät gewürdigt. In der BRD war bis
Ende der 60er Jahre die Beschäftigung mit der
bürgerlich-konservativen Seite dominierend. Die Erforschung
des sozialistischen und kommunistischen Widerstandes
schloss sich in den 60er Jahren an, gefolgt von der
Erforschung der „Alltagsgeschichte“ aus sozialhistorischer
Perspektive in den 70er Jahren. [32]
Die Rote Kapelle gehörte nach 1945 zu den umstrittensten
Bereichen des Widerstandes gegen die NS-Diktatur und
bestätigte die Feststellung des Geisteshistorikers Isaiah
Berlin, „Geschichte spiele sich nicht zuletzt in den Köpfen der
Nachlebenden ab.“ [33] In den 50 Jahren hat sich in den
Vorstellungen der beiden deutschen Nachkriegs-
gesellschaften ein Zerrbild der Gruppe entwickelt: Im Westen
stand fest, dass sich in der Roten Kapelle vor allem Spione
gesammelt hätten, deren Tätigkeit letztlich für den Tod vieler
deutscher Soldaten als Folge des Verrats kriegswichtiger
Nachrichten verantwortlich gewesen sei. [34] Im Osten
wurde die Verzerrung der „Roten Kapelle“ zu einer mächtigen
Spionageorganisation in gewisser Weise
aufgenommen. [35] Gemeinsam war den Deu
tungen die völlige Überschätzung der Wirksamkeit der Gruppe
und die mangelnde Bereitschaft, die ethische und politische
Motivation einzelner Regimegegner, die Grenzen ihres
Handelns und damit zugleich auch die Erfolge der Gruppe
richtig zu deuten. [36] Erst nach der Wiedervereinigung
wurde erkennbar wie bedeutend und vielfältig diese
Organisation war. Der Umbruch in Europa und die
Wiedervereinigung in Deutschland hat die enge
Zusammenarbeit zwischen Historikern der früheren DDR und
der alten BRD ermöglicht. Damit wurden auch die
Voraussetzungen für die Erschließung neuer Quellen
geschaffen, die den Blick für individuelle Lebensgeschichten,
für die verschiedenen Wege in der Konfrontation mit dem
Regime eröffneten. [37]
V. Die Rote Kapelle im Gesamtkontext des
    Widerstands gegen die NS-Diktatur
Wie für die Rote Kapelle gilt für den deutschen Widerstand
insgesamt, dass er eine Angelegenheit von Minderheiten blieb.
Er war weit weniger verbreitet, seine praktischen
Auswirkungen weit geringer als es historische Forschung der
Nachkriegszeit vermuten ließ. Grund dafür war zum einen,
dass außer dem Widerstand wenig Positives über den
Nationalsozialismus zu berichten war und der Widerstand
jeweils zur Legitimierung politischer Systeme eine wichtige
Rolle spielte. [38]
Um den Widerstand angemessen bewerten zu können, muss
Klarheit über den Möglichkeitsraum geschaffen werden.
Dieser war aus unterschiedlichen Gründen begrenzt: [39]
Die Basis zur Rekrutierung Gleichgesinnter in der
Bevölkerung war gering. Den Nationalsozialisten gelang
zumindest eine Teilidentifizierung der Bevölkerung mit
verschiedenen Politikbereichen.
Die Breitenwirkung des Widerstandes wurde auch durch
Einstellungen und Werte begrenzt. „Zucht und Ordnung“ in
der Sicherheitspolitik und bezogen auf politische
Auseinandersetzungen waren für viele Deutsche positiv.
Philosophisch und politisch gewendet fehlte es an einer
naturrechtlichen Tradition in Deutschland.  [40] Die
Vielzahl der NS-Organisationen und ihrer Aktivitäten förderten
zudem die Identifikation mit dem Regime. Das galt für die
Außenpolitik, der Revisionismus war ein Politikfeld, über das
eine partielle Integration der Arbeiterschaft bis zur äußersten
Rechten gelang. Die Besserung auf dem Arbeitsmarkt als
Erfolg Hitlers verbucht. [41] Auch die Möglichkeiten, aktiv
zum Widerstand Entschlossene zu finden, waren begrenzt, da
die nationalsozialistische Diktatur ein engmaschiges
Überwachungs- und Kontrollnetz hatte, das den Widerstand
Einzelner zunichte machte.
Bemühungen um Unterstützung durch die Alliierten blieben
ungehört. Die Widerstandsgruppen verbindet die Indifferenz
der gegen Hitler angetretenen alliierten Mächte, die eher und
wahrscheinlich berechtigterweise auf ihre Armee denn auf die
inneren Abwehrkräfte des deutschen Volkes setzen. [42]
Keines von den festgelegten Zielen der Roten Kapelle wie
auch anderen Widerstandsgruppen hat sich verwirklichen
lassen. Der Umsturz des Regimes gelang nicht. Die Bilanz
fällt also in einem politischen Sinne negativ aus. In diesem
Sinne teilt die Gruppe um Harnack und Schulze-Boysen die
Illusionen und das Scheitern eines Widerstandes „ohne Volk“.
[43] Allerdings wäre es vor dem Hintergrund der
dargestellten begrenzten politischen Möglichkeiten unredlich,
die Wirksamkeit des Widerstandes an dessen politischen
Erfolgen zu messen. Der Widerstand erfordert einen
normativen Zugang, der an der Motiven und
Handlungen gegen das Hitler-Regime gemessen werden
muss:Dazu zählt die Bereitschaft zum Risiko des eigenen
Lebens und der eigenen Gesundheit, die einen enormen
individuellen Willensakt darstellte.
Anerkannt werden muss die große Leistung der
Organisation, vorgegebene und in der Bevölkerung tief
verwurzelten politische Muster und Traditionen überwunden
zu haben und trotz der daraus resultierenden Spannungen den
Zusammenhalt der Gruppe gesichert zu haben.
Harnack und Schulze-Boysen gehören zu den frühen,
kompromisslosen Kritikern des Regimes. Sie haben die
Konsequenzen des Krieges gegen die Sowjetunion für
Deutschland früh erkannt und ihn im Rahmen ihrer
Möglichkeiten rigoros zu beenden versucht.
Angesichts des beschriebenen Umfeldes war klar, dass die
Rote Kapelle nur als Minderheitsbewegung eine Chance hatte.
Dies hat die Gruppe erkannt und sich nach 1939 von der
Illusion verabschiedet, dass es eine Massenbewegung geben
werde. Sie hatten sich konsequenterweise im Rahmen des
Möglichen geöffnet und Kooperationen gesucht.
Als Fazit bleibt festzuhalten: „Bei all den Männern und Frauen
um Harnack und Schulze-Boysen begegnet uns all jenes, was
Hans Rothfels einmal das „Urgestein“ des Widerstandes
nannte, zu dem man jenseits der „begrenzten Sphäre
politischer Betrachtungen und Möglichkeiten“ durchzudringen
habe:„den Kräften der moralischen Selbstbehauptung, die
über die Erwägung des politisch Notwendigen weit
hinausgehen.“ [44]

[1] Danyel, 1994a, S. 469, 472; Danyel, 1994b, S. 21.
[2] Zum Begriff siehe S. 8. Danyel, 1994a, S. 470f. führt aus, dass der
              Sammelbegriff „Rote Kapelle“ von der deutschen Abwehr und Gestapo
              in diffamierender Absicht geprägt wurde. Er bezog sich auf einige
              Mitglieder dieser Widerstandsgruppe, die z.T. bereits vor 1933 in eine
              nachrichtliche Arbeit mit der Sowjetunion eingebunden waren. Von
              den überlebenden Beteiligten werde er als Teil ihres positiven
              Selbstverständnisses angenommen, was für seine Beibehaltung
              spreche. Tuchel, 1990, S. 55, betont, dass diese Begriffsbestimmung
              bis heute dazu beigetragen hat, die Widerstandsorganisation in das
              Zwielicht der Spionage zu rücken.
[3] Zu Harnacks Biografie vgl. Steinbach, 1990, S. 81ff. Harnack stand
              dem nationalsozialistischen Regime von Anbeginn an ablehnend
              gegenüber. Um Hitler aus der „Position der Macht“ zu bekämpfen
              beendete er seine wissenschaftliche Karriere als Nationalökonom und
              wird Mitarbeiter im Reichswirtschaftsministerium und tritt 1937 – nach
              Diskussionen im Gesprächskreis – sogar der NSDAP bei.
[4] Neben Wissenschaftlern und Künstlern aus der "Ardplan" und dem
              "Bund der Geistesarbeiter" gehörte eine Gruppe von Schülern des
               Berliner städtischen Abendgymnasiums dazu.
[5] vgl. Danyel, 1994b, S. 23f. Seine Vorstellungen waren keine bloße
              Projektion sowjetischer Verhältnisse, sondern basierten auf
              eigenständigen staatstheoretischen Traditionen, die sich an den
              deutschen Verhältnissen orientierten.
[6] Der Begriff stammt von Adolf Grimme, Die Sammlung 2, 1947, S.
              537-545, zit. nach Danyel, 1994b, S. 23.
[7] Danyel, 1994b.S. 23f.
[8] Zu Schulze-Boysens Biografie vgl. Steinbach, 1990, S. 79f. Ende
               der 20er Jahre wirkt er in verschiedenen Widerstandskreisen mit.
              Er wollte Nation und Arbeiterschaft miteinander versöhnen, deshalb
              übte die Idee der „Volksgemeinschaft“ einen besonderen Reiz auf ihn
              aus. Bis 1932 wird er Redakteur der nationalrevolutionären Zeitung
              „der Gegner“, die 1933 zeit- und politikkritische Text veröffentlicht. Er
              wird  in einem Konzentrationslager misshandelt und kommt nur
              aufgrund persönlicher Interventionen seiner Mutter frei. Auch für ihn liegt
              die Vermutung nahe, dass er dass Regime von innen her bekämpfen
              wollte. Durch die Eheschließung mit Libertas Haas-Heye gelang ihm
              der Eintritt in das Reichsluftfahrtsministerium.
              Nach Danyel, 1994b, S. 24. Aus der Frustration über die Weimarer
              Republik wollte Schulze-Boysen eine Sammlungsbewegung quer zu
              traditionellen Frontstellungen und sozialen Barrieren aufbauen und in
              einer „neuen Einheit“ nationalen Aufbruch mit sozialem Umbruch
              verbinden.
[9] Dazu zählten u.a. Kurt und Elisabeth Schumacher, Elfriede Paul,
                         Walter Küchenmeister, das Ehepaar Husemann, Oda Schottmüller.
[10] Danyel, 1994b, 24ff.
[11] Steinbach, 1990, S. 82.
[12] Danyel, 1994b, S. 27. Ihre Einbindung erfolgte eher punktuell über
                konkrete Aktionen. Dazu zählten etwa die Zettelklebeaktionen, im
                Zusammenhang mit der Propagandausstellung "Das Sowjetparadies"
                oder die Entstehung und Verbreitung der Flugschrift "Die Sorge um
                Deutschlands Zukunft geht durch das Volk" die belegen, dass
                Initiativen über einzelne Gruppenmitglieder erfolgten.
[13] Danyel, 1994b, S 27.
[14] Danyel, 1994b, S. 29. Dabei handelte es sich um einen stark
                individualisierten kommunistischen Widerstand, dessen
                organisatorische Basis weitestgehend zustört war.
[15] Steinbach, 1990, S. 86.
[16] Steinbach, 1988, S. 82f.
[17] Steinbach, 1988, S. 83; Danyel, 1994b, S. 30f. Im September
               1940 begannen Gespräche Harnacks mit dem in der sowjetischen
                Botschaft angestellten Nachrichtendienstmitarbeiter Korotkow, an
                denen später auch Schulze-Boysen beteiligt wurde. Es wurden
                militärisch relevante Informationen im Zusammenhang mit den
                deutschen Angriffsvorbereitungen weitergegeben. Die persönlichen
                Kontakte gehen bis in die 30 Jahre zurück.
[18] Danyel, 1994b, S.31.
[19] Tuchel, 1990, S. 56; Steinbach, 1988, S. 83.
[20] Kershaw, 1994, S. 783ff.; Klaus Sator, 1997, S. 152ff. Ryska,
               1994, S. 1107ff. Die Schwierigkeiten aller Typologien liegt darin, dass
               „Widerstand“ als ordnender Begriff für eine ganze Spanne nicht
                systemkonformer Verhaltensweisen gilt, als auch einen engen
                politischen Aktionsbereich, der sich qualitativ von anderen Bereichen
                abgrenzen soll, vorbehalten ist. Eine eindeutige analytische
                Begriffsbestimmung scheint schwierig.
[21] Kershaw, 1994, S. 783.
[22] Stöber, S. 185ff.
[23] Kershaw, 1994, S. 780ff; Stöber, 1996, S. 186.Kritiker weisen auf
                irreführende Verbindungen zum Begriff der „Resistence“ hin, der als
                aktiver Kampf mehr als nur passive Widerstandskraft im Sinne von
                Resistenz sei. Kershaw betont,dass die regional- und lokal verortete
                Alltagsforschung die Auseinandersetzung mit dem Widerstand
                ausgeweitet hat und der Begriff entmythologisiert wurde. Zugleich
                dürfe die Anwendung des Begriffs nicht zu einer Überbewertung des
                Widerstandes führen. Eine klare Abgrenzung vom Begriff
               „Widerstand“ sei nur schwer möglich und führe in der Praxis zu mehr
                oder weniger synonymen Gebrauch.
[24] Stöber konzentriert sich auf die Abgrenzung aktiven und passiven
                Widerstandes: Formen und Möglichkeiten des aktiven Widerstandes
                wie etwa Attentate waren im Nationalsozialismus, Sabotage waren im
                nationalsozialistischen Widerstand selten; Aufstände und Überfälle
                gab es nicht. Desertion, Verweigerung des Beamteneides,
                Kriegsdienstes oder Rücktritt vom Amt und publizistische Aktionen
                lassen sich dem passiven Widerstandes zuordnen.
[25] Stöber, 1996, S. 186f.
[26] Foitzik, 1994, S. 68ff, erarbeitet genaue Übersichten zur sozialen
                Herkunft, zum Bildungsgrad, Alter, Geschlecht und
                Parteizugehörigkeit.
[27] Zwar war der Anteil von Kommunisten und Sympathisanten hoch.
                Foitzik, 1994, S. 70, betont aber, dass dies als Zufall zu werten ist,
                wenn man sich zugleich die Parteizugehörigkeit der gesamten
                Gruppe mit dem hohen Anteil von 36 % Parteilosen anschaut.
[28] Danyel, 1994b, S. 32.
[29] Danyel, 1994b, S. 26f.
[30] Danyel, 1994b, S. 32.
[31] Tuchel, 1990, S. 55ff.
[32] Kershaw, 1994, S. 779f.
[33] Steinbach, 1994, S. 54.
[34] Steinbach, 1994, S. 55: „Die westliche Geschichte der Roten
                Kapelle wurde so in großem Maße zu einem Kapitel der mit dem
                Widerstand verwobenen Geheimdienstgeschichte des „Krieges im
                Dunkeln“ und damit der medienwirksamen prickelnden Grauzone von
                Geld, Halbwelt, Freizügigkeit, Luxus, sexueller Abhängigkeit, ja zu
                Orgien und käuflich gewordenem Verrat.“
[35] Steinbach, 1994, S. 55: Man sprach gerne von „hochverdienten
                und sehr wirksamen Kundschafter des Volkes“, die im Kampf für
                oder an der Seite der SU sehr entscheidend zur Schwächung der
                Kampf- und Abwehrkräfte der deutschen Wehrmacht geleistet hätten.“
[36] Steinbach, 1994, S. 55ff. Für die wissenschaftliche Adaption ist
                das Beispiel des Freiburger Historikers Ritter zu nennen.
                Bei seiner Bewertung zeitgeschichtlicher Befunde übernahm er die
                Perspektive der Nationalsozialisten. In der breiten Öffentlichkeit der
                Bundesrepublik war die „Rote Kapelle“ durch eine Serie des
                Nachrichtenmagazins der Spiegel als Geheimdienstorganisation
                festgelegt.
[37] Steinbach, 1994, S. 58ff.
[38] Stöber, 1996, S. 188ff. Das größte Widerstandspotential hatte die
                KPD, für die die Spannbreite der Schätzungen 10.000 bis 100.000
                Beteiligte reicht.
[39] Stöber, 1996, S. 188f, Kershaw, 1994, S. 783ff; v. Klemperer,
                    1994, S.1098ff.
[40] v. Klemperer, 1994, S. 1099f. Gehorsam wurde in der deutschen
                Bevölkerung immer der Vorzug gegenüber Aufruhr gegeben. Er führt
                aus, dass Bonhöffer sich diesem Problem in der Niederschrift nach
               10 Jahren ausführlich widmete: Sie hätten die „Notwendigkeit und
                Kraft des Gehorsams“ lernen müssen, ohne damit zu rechnen, dass
                diese „Bereitschaft zur Unterordnung, zum Lebenseinsatz für den
                Auftrag, mißbraucht werden könnte zum Bösen“.
41] Stöber, 1996, S. 189. Zwar ist es schwierig, wissenschaftlich
                exakte Aussagen über das Wissen der Deutschen um die
                NS-Verbrechen zu machen. Hans Mommsen stellte dazu fest: „Die
                umlaufenden Gerüchte verdichteten sich nur im Ausnahmefall zu
                einem geschlossenen Bild.“ Die Sprachregelungen vertuschten
                verbrecherische Realitäten. Nichts gewußt zu haben diente dann als
                wohlfeile Entlastung.
[42] Danyel, 1994a, S. 32.
[43] Danyel, 1994a, S. 32.
[44] zit. nach Danyel, 1994a, S. 32.




Literaturverzeichnis:

Benz, Wolfgang (Hrsg.), 1994, Lexikon des deutschen Widerstandes, Frankfurt a.M,.

Coppi, Hans (1993): Harro Schulze Boysen – Wege in den Widerstand. Eine biographische Studie, Koblenz.

Danyel, Jürgen (1994a): Die Rote Kapelle innerhalb der deutschen Widerstandsbewegung. In: Coppi, Hans/Danyel, Jürgen /Tuchel, Johannes (Hrsg.): Die Rote Kapelle im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Berlin, S. 12-38.

Danyel, Jürgen (1994b): Zwischen Nation und Sozialismus: Genese, Selbstverständnis und ordnungspolitische Vorstellungen der Widertstandsgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen. In: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hrsg.), Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Bonn, S. 468-487.

Die Rote Kapelle (1994). In: Steinbach, Peter/Tuchel, Johannes (Hrsg.), Widerstand in Deutschland 1933-1945, München, S. 259-284.

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